Mittwoch, 20. März 2019

Die Unsichtbaren




In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr alte und/oder kranke Menschen, die dauerhaft Hilfe benötigen. Diese Hilfe wird zu einem großen Teil von Angehörigen geleistet, aber der Rest der Gesellschaft, der sich nicht mit diesem Thema befassen muss, schaut weg.

Jeder Mensch möchte so lange wie möglich in seinem Zuhause selbstbestimmt leben. Dagegen ist eigentlich auch nichts einzuwenden. Welche Anstrengungen von Angehörigen hierzu notwendig sind, wird komplett ausgeblendet. Ich meine dabei nicht mal die alten Menschen, die nur noch bettlägerig oder total dement sind. Gerade alte Menschen, die zwar vielleicht körperlich eingeschränkt sind, aber sonst noch geistig rege sind, benötigen auch sehr viel Hilfe, die in der Regel von Angehörigen geleistet werden muss.

Natürlich gibt es Hilfen, die man beantragen oder in Anspruch nehmen könnte, aber wenn die Mutter oder Vater dies vehement ablehnen und behaupten, das sei nicht nötig, steht man auf verlorenem Posten. Es fängt ganz langsam an mit ab und zu Fahrdienste übernehmen, einkaufen gehen, im Haushalt und Garten helfen, und schleichend wird es immer mehr.

Das Belastende an der Situation ist nicht mal die Hilfe, die man leisten muss, sondern die Umstände. Jedes Mal ein Kampf gegen die zunehmende Alterssturheit: "Das hab ich schon immer so gemacht, dann musst Du das auch genau so machen". Bevor irgendetwas in Angriff genommen werden kann, beginnt ein mindestens 2 stündige Diskussion, wie das gemacht werden muss.
Das Fehlen jeglicher Rücksicht gegenüber dem Helfenden. Ein ständiger Kampf, die eigenen Termine wahrnehmen zu dürfen. Selbst wenn der Hilfebedürftige weiß, dass man an diesem Tag um eine bestimmte Uhrzeit nicht verfügbar ist, wird immer wieder versucht, das auszuhebeln. " Ich habe nur diesen Termin bekommen, geht nicht anders." Die Lebensweisheit " Von Alten und Kranken darfst Du keinerlei Mitleid oder Rücksicht erwarten" trifft hier voll zu.

Zermürbend ist ausserdem der ständige Kampf mit sich selbst. Du weisst, dass Du auch Deine Bedürfnisse wahrnehmen musst und selbst etwas für Dich tun musst. Andererseits das ständige schlechte Gewissen, dass Du nicht genug getan hast, nicht den Erwartungen entsprochen hast, niemals entsprechen wirst. Und der Behauptung, dass alte Leute wieder zu Kindern werden und man eben wieder ein Kind zu versorgen hat, muss ich widersprechen. Ein Kind aufzuziehen und zu versorgen ist etwas komplett anderes. Da findet eine ständige Entwicklung statt, es kommt etwas ganz anderes zurück und Du kannst versuchen, Dein Kind zu erziehen, ihm Werte, Verhaltensweisen mitzugeben. Alte und kranke Leute kannst Du nicht mehr erziehen, es gibt nur Rückschritte in der Entwicklung und Du hast wenig Erfolgserlebnisse.

Ein weiterer belastender Punkt ist, dass Du keinerlei Wertschätzung von Deiner Umwelt, Deinen Geschwistern etc. erfährst. Niemand fragt, wie es läuft, wie es Dir mit der Situation geht. Man redet am besten nicht darüber, dann gibt es all diese Probleme nicht, man muss sich nicht damit auseinandersetzen oder vielleicht sich auch mal etwas mehr einbringen.

Das Allerschlimmste ist aber, dass Du irgendwann das Gefühl hast, unsichtbar zu sein. Dass Du nicht mehr Du bist, dass Du auf dem Weg bist, Dich komplett zu verlieren, nur noch als Hilfskraft für die Eltern gesehen wirst. Du versuchst mit aller Kraft dagegenzuarbeiten, Dir Auszeiten zu erkämpfen, selbst noch etwas auf die Beine zu stellen, das nicht mit der Hilfssituation zu tun hat. Und merkst, dass es immer schwieriger wird, dass irgendwann die Reißleine gezogen werden muss und dass dann Du auch wieder diejenige bist, die versagt hat.

Mir ist bewusst, dass ich nicht die Einzige dieser "Unsichtbaren" in unserer Gesellschaft bin. Vielleicht wäre es gut, wenn sich all diese "Unsichtbaren" mehr zusammenschliessen würden, damit sie nicht mehr gnadenlos vom Rest der Gesellschaft ausgenützt werden.